entfliehen
Die Gewöhnung ans Denken verhindert manchmal die Wahrnehmung der Wirklichkeit, macht gegen sie immun und lässt sie lediglich als einen weiteren Gedanken erscheinen.
Da aber das Ich davon lebt, unablässig an eine große Zahl von Dingen zu denken, ja, eigentlich nichts anderes ist als das Denken an diese Dinge, findet es, wenn es zufällig einmal nicht diese Dinge vor sich hat und stattdessen plötzlich an sich selbst denkt, nur einen leeren Apparat vor, etwas, das es nicht kennt [...]
Das Leiden strebt, als Auswirkung eines erlittenen moralischen Schocks, nach Veränderung seiner Form, man hofft, es in Rauch auflösen zu können, indem man Pläne schmiedet, Auskünfte einholt, man will, dass es seine unzähligen Metamorphosen durchläuft, denn das erfordert weniger Mut, als seinem Leiden freien Lauf zu lassen; das Lager, auf das man sich mit seinen Schmerzen bettet, erscheint so eng, so hart, so kalt.

entkommen
Zusammensein ist die reparativste Praktik, die ich kenne. Weil wenn die Angst reinkickt, wird das Entkommen nie ein individueller Akt sein.
Der Moment der Wahrheit: ein Ablassen von sich selbst, trotz der aufrichtigen Erkundung des Grauens, in dem man sich befindet; ein Übergang in die Zusammenhänge der Welt, die mehr ist, als man jemals sein kann; das Lachen beim Abschmirgeln der eigenen Idiotie.
Lange habe ich versucht, mir mein Existieren als andauernden Bewältigungsmechanismus vorzustellen. Dabei wusste ich eigentlich schon immer, dass ich kollaborative Zusammenhänge der Isolation vorziehe. Trotzdem habe ich mich oft isoliert. Ich wollte mich, für mich selbst, ganz tief reingraben in die Gegenwart; ich kauerte in ihr, ich kaute in ihr an meinen Fingernägeln rum. Ich wollte verstehen, was mich umgab. Was mich umgab, ballerte sich in meine Bewusstsein und blieb da.

transzendieren
Unumgrenzt

Wir machen zu viel Geschichte.

Mit oder ohne uns
Sind da die Stille
Und die Steine und das ferne Gleißen.

Was es aber gilt, zu sein,
ist, oh, der kleine Sang der Schwalben
am ewig abendtrüben
Wasser unter Weiden.

Zu sein heißt, zu wissen, dass der Fluss
Lachse fasst und der Ozean
Wale, so sacht
wie Körper Seelen fassen
in der Gegenwart, in der Gegenwart.

Wir sind eine Spezies des Worts. Worte sind die Flügel, mit denen sich sowohl Intellekt als auch Vorstellungskraft in die Lüfte aufschwingen. Musik, Tanz, bildende Künste, Handwerke sind alle wesentlich für die Entwicklung und das Wohlergehen von Menschen, und keine dieser Künste und Fähigkeiten lernen wir je vergebens; und doch gibt es nichts, das den Geist so gut lehren könnte, sich von der unmittelbaren Realität abzulösen und mit neuen Einsichten und Kräften dorthin zurückzukehren, wie die Dicht- und Erzählkunst.
Die Fähigkeit, zu lesen, ist deshalb so wichtig, weil die Literatur die Gebrauchsanweisung ist. Das beste Handbuch, das wir haben. Die hilfreichste Anleitung für das Land, das wir besuchen: das Leben.

Zitiert aus:
Marcel Proust: Die Entflohene (1925/2016)
Joshua Groß: Entkommen (2021)
Ursula K. Le Guin: Am Anfang war der Beutel (1986/2020)


Infinitive

We make too much history.

With or without us
There will be the silence
And the rocks and the far shining.

But what we need to be
is, oh, the small talk of swallows
in the evening ever
dull water under willows.

To be we need to know the river
holds the salmon and the ocean
holds the whales as lightly
as the body holds the soul
in the present tense, in the present tense.


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